Wer braucht schon Agilität?

Agilitaet

Hallo und Servus aus München!

„Na, seid Ihr auch schon agil unterwegs?“ lautet dieser Tage eine gern genommene Einstiegsfrage im Business Small Talk. Der zweite Teil der Frage wird nicht mehr formuliert, nur noch gedacht „…oder seid Ihr von gestern?“

Allein der Ton weckt Emotionen: Vom Ärger über Scham mit schlechtem Gewissen bis hin zur Verunsicherung ist alles dabei.

„Wer nicht agil arbeitet, ist demnächst weg vom Fenster!“ lautet die Panikmache. Daraufhin werden dann Dailys, Sprints und Retros sicherheitshalber gleich mal dem ganzen Unternehmen übergestülpt. „Bullshit!“ würde Markus sagen.

Und zugleich ist einer der Gründe, warum auch wir bei EQ Dynamics leidenschaftliche Diskussionen für und wider die Agilität führen, die Frage: Handelt es sich um eine neue Sau, die durch´s Dorf getrieben wird  oder um eine innovative zukunftsträchtige Arbeitsweise?

Dabei schätzen auch wir die agilen Werte als durchaus erfolgskritische Faktoren und ringen selbst oft genug um den einen oder anderen:

  • Commitment
  • Einfachheit (Simplicity)
  • Feedback
  • Fokus (Focus)
  • Kommunikation (Communication)
  • Mut (Courage)
  • Offenheit (Openness)
  • Respekt (Respect)

Wer braucht also Agilität? Wer braucht diese Werte in der Zusammenarbeit? Schauen wir etwas genauer hin …

Was ist Agilität und was nicht?

Agilität ist die Fähigkeit einer Organisation, sich nicht nur reaktiv, sondern auch proaktiv an sich verändernde Bedingungen anzupassen, kontinuierlich zu lernen und sich als Ganzes weiterzuentwickeln. Nur wenige Unternehmen können das momentan von sich behaupten, vor allen natürlich Start-Ups und einige IT-Unternehmen. Innerhalb von Organisationen sind es vorzugsweise IT-Bereiche und sonst eher hier und da mal Experimente von Kollegengruppen, die dafür bekannt sind, „eh immer alles ausprobieren zu müssen“.

Das Grundprinzip agilen Handelns entspricht der Evolutionstheorie: Schnelles und richtiges Anpassen erhält die Wettbewerbsfähigkeit und sichert das Überleben. Das Gegenteil davon ist Trägheit, die sich durch vergangene Erfolge, Sättigung und empfundene Sicherheit einstellen kann.

In einer qualitativen Studie des Instituts für Personalforschung (IfP) der Hochschule Pforzheim  kristallisierten sich 4 Kern-Aspekte heraus, wie praktizierende Menschen und Unternehmen Agilität verstehen:

  • Geschwindigkeit
  • Anpassungsfähigkeit
  • Kundenzentriertheit
  • agile Haltung

Also warum nicht mein Unternehmen auf Agilität umstellen?

Weil das nicht mal eben so geht. Und weil es gegebenenfalls noch nicht einmal sinnvoll ist.

Dazu ist es hilfreich, sich klar zu machen, was Agilität eben nicht bedeutet:

1. Agilität ist keine Methodensammlung, kein Projekt, kein Prozess.

2. Agil sein heißt nicht, bestehendes Geschäft günstiger umzusetzen.

3. Agilität bedeutet nicht höhere Qualität oder weniger Fehler.

4. Agilität rettet keine schlechte Geschäftsidee.

Um es mit Thorsten Dirks (CEO der Telefónica Deutschland AG bis 2017) Worten zu sagen: „Wenn Sie einen Scheißprozess digitalisieren, dann haben sie einen scheiß digitalen Prozess.“

„Digital“ lässt sich in diesem Zitat ebenso treffend durch „agil“ ersetzen, wenn man Digitalisierung als komplexe Herausforderung versteht, der man sinnvollerweise agil begegnet.

Wann macht das Ganze also Sinn?

Prof. Peter Kruse wies zu Recht darauf hin: „Bei der Gestaltung von Veränderungsprozessen macht es Sinn, zwischen Funktionsoptimierung und Musterwechsel zu unterscheiden.“ Siehe meinen Blog dazu

Er verglich Funktionsoptimierung mit Fahren in bekannten Gewässern, was speziell bei der Annäherung an Küsten achtsames Steuern und Regeln erfordert. Dementgegen gestalten sich Musterwechsel eher wie die Situation von Christopher Columbus bei der Entdeckung Amerikas, also wie das Navigieren in fremden Gewässern auf der Suche nach neuen Küsten. Die Kunst der Führung liegt dann eben genau darin, wirksam zu unterscheiden: wann genügt achtsames Steuern und wann braucht es eine glühende Vision und Segeln auf Sicht.

Überall dort, wo Entwicklungen vorhersehbar sind, Aufgaben sich wiederholen, standardisierbar und damit verteilbar sind, haben Linienorganisation und klassisches Management ihre Berechtigung.

Allerdings sehen wir uns in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik zunehmend mit Herausforderungen konfrontiert, die dynamisch, vernetzt und damit ungewiss und nicht mehr einfach zu managen sind. Dort macht agiles Vorgehen durchaus Sinn.

Insofern empfehlen wir, beim geplanten Aufbruch ins agile Arbeiten zunächst einmal drei Fragen zu klären:

1. Für welche unserer Themen ist agiles Vorgehen statt klassischem Projektmanagement oder Linienorganisation sinnvoll?

2. Welche Voraussetzungen für agiles Arbeiten sind bei uns schon erfüllt? Welchen Rahmen müssen wir noch schaffen, damit das Ganze kein Rohrkrepierer wird?

3. Wenn wir es schließlich wollen, was bedeutet das dann eigentlich für uns? Von welchen Privilegien und Gewohnheiten müssen wir uns verabschieden? Welche Vorteile sehen wir stattdessen? Welches Selbstverständnis benötigen wir dafür?

Dabei helfen ein paar Beispiele von typischen Kardinalfehlern bei der Einführung agilen Arbeitens:

  • Als Geschäftsführer Agilität anzuordnen und aufgrund des bestehenden Kostendrucks weiterhin knallharte Zielvorgaben für die agilen Teams beizubehalten, hat zur Konsequenz, dass das Mittelmanagement wie gewohnt kontrollierend und anweisend durchgreift.
  • Agil arbeiten nur in der IT, nur innerhalb einzelner Silos, reicht ebenso wenig, wie das flächendeckende Ausrollen neuer Methoden auf alle Unternehmensbereiche. Verwaltung „funktioniert“ nun mal anders als Software-Programmierung.
  • In der Leistungsbeurteilung weiterhin der Einzelleistung und dem Expertenwissen den höchsten Stellenwert einzuräumen, die variable Vergütung nach wie vor an persönlichen Zielen festzumachen, sorgt dafür, dass der Synergie-Effekt des Teamarbeitens, die Vernetzung, das Teilen von Wissen ausbleibt.
  • Wer erwartet, dass frisch gebackene agile Teams den neuen riesigen Entscheidungs-Raum der agilen Selbstorganisation spontan und ohne jegliche Führung und Struktur produktiv füllen, überfordert sie heillos und sorgt damit nur für Frust und Rückfall in alte Muster.

Wie entwickelt man also Beweglichkeit?

Agilität ist vor allem eine Haltung. Eine Haltung, mit der man Kommunikations- und Kooperations-Räume öffnet und offen hält (Haltung kommt von halten!), deren Potenzial sonst für „Forschung und Entwicklung“ ungenutzt bleibt.

Diese Haltung ist geistiger Natur. Und ich finde den Vergleich zur körperlichen Haltung sehr erhellend:

Je älter wir werden, desto mehr gewöhnen wir uns bestimmte Haltungen an. Wer nicht bewusst dagegen steuert, bewegt sich mit der Zeit immer weniger. Und wir gewöhnen uns an ganz bestimmte Bewegungen. Wir fühlen uns einfach am wohlsten damit. Manchmal ist uns gar nicht bewusst, dass wir immer das gleiche Bein nehmen, wenn wir die Beine überschlagen. Und irgendwann spüren wir, dass selbst einfach wirkende Bewegungen wie etwa das Springen auf einem Trampolin (was die meisten von uns jetzt nicht unbedingt jeden Tag machen), tatsächlich auf einmal gar nicht mehr so einfach für uns ist, wie es aussieht. Und dann kommt die Angst: lieber nicht mehr Inline Skating anfangen, Einrad ausprobieren schon gar nicht, alpines Skifahren lassen wir besser auch … die Folge: unser Bewegungshorizont schränkt sich immer weiter ein.

Wen das beunruhigt, und wer daraus die Motivation schöpft, aktiv etwas für seine Beweglichkeit zu tun, sollte besser schrittweise beginnen. Sonst ist mit Verletzungen, Muskelkater, Frust und Resignation zu rechnen.

All das, die Entwicklung in die Starre, die Erkenntnis der Unbeweglichkeit, die Angst vor Neuem, aber auch die Motivation und das schrittweise Herangehen lässt sich wunderbar aus dem Körperlichen auf das Geistige übertragen, wenn es um die Entwicklung von agiler Haltung geht: Es müssen nicht von heute auf morgen alle agil arbeiten, Agilität darf mit einem Nukleus aus Freiwilligen beginnen und dann langsam Kreise ziehen.

Dazu empfehle ich zum Einstieg ein Pilotprojekt auf freiwilliger Basis. Die Piloten lernen agile Methoden kennen und können die Effizienz agilen Arbeitens überprüfen. Erkenntnisse aus solchen „Agilitäts-Trafos“, wie ich diese Arbeits-Räume gerne nenne, können dann in größeren Projekten ausprobiert werden und helfen, eine agile Haltung im Unternehmen entstehen zu lassen. Dazu beschäftigt sich das Pilotteam nicht nur mit der Erfahrung von Agilität, sondern auch mit der Kommunikation dieser Erfahrungen innerhalb seines unternehmensinternen Netzwerks.

Dabei gilt es vor allem drei Herausforderungen zu bewältigen:

1. Die Mitarbeiter mitnehmen – dazu beschäftigt sich das Pilotteam nicht nur mit der Erfahrung von Agilität, sondern auch mit der Kommunikation dieser Erfahrungen innerhalb seines unternehmensinternen Netzwerks. Die Kaskaden-Kommunikation, die hier stattfindet, richtet sich von innen nach außen, nicht von oben nach unten. Zum Einstieg in agiles Arbeiten hilft allen, nicht nur dem Pilotteam, den Ablauf eines agilen Organisationsprozesses einmal selbst zu erleben. Hier finden sich Tipps und Tools, wie sich agiles Arbeiten innerhalb kürzester Zeit spielerisch erfahren lässt.

2. Die Führungskräfte in die Verantwortung nehmen – sie bleiben die Haupt-Transfervariablen von der alten in die neue Welt. Die Unternehmensleitung und jede einzelne Führungskraft muss hinter dem neuen Arbeiten stehen. Prozesse und Methoden unterstützen die Entwicklung natürlich, sind aber wirkungslos, wenn das Thema Führung nicht neu aufgestellt ist. Das Besondere am Aufbruch in die Agilität ist, dass die Führungskräfte auf diesem Weg diejenigen sind, die die meisten Privilegien zu verlieren haben. Das erzeugt natürlich Verlustangst vor allem im Mittelmanagement. Zunächst gilt es, dort Problembewusstsein zu entwickeln, z.B. durch eine MA-Befragung: Wo verlieren wir Potenzial? Was bremst Euch? Wie können Eure Führungskräfte Eure Arbeit erleichtern? Dann braucht es aber auch den Raum, gemeinsam die Vorteile der Agilität zu erarbeiten und die eigene Rolle neu zu finden und mit Leben zu füllen. Vor allem in der Übergangsphase ist da der regelmäßige kollegiale Austausch Gold wert.
Auch die Rolle des Top-Managements muss sich ändern: weg vom Treiber und Entscheider hin zum Architekten, Raumgeber, Enabler und Coach. Nicht von oben müssen die Impulse und Entscheidungen kommen, sondern gerade von unten. Mit der üblichen Entscheidungskaskade kommt die Umsetzung oft zu spät und schießt dann auch gerne mal an der Realität vorbei. Dazu gehört, dass das Top-Management sich bewusst für die dezentralen Entscheidungskompetenzen entscheidet.

3. Starke Gründe für eine Neuausrichtung schaffen – es gilt, sämtliche Steuerungs-Systeme daraufhin zu überprüfen, ob sie eine agile Haltung unterstützen oder ihrer Ausbildung eher im Wege stehen. Statt völlig widersprüchliche Anreize zu setzen, sollten alle beeinflussbaren Faktoren den Sog in eine einzige Richtung unterstützen: wie werden wir agiler. Dazu gehören z.B. entsprechende Vergütungsmodelle, Karrierewege, Ziel-, Controlling- und Beurteilungssysteme, Personalentwicklung und Führungskräfteauswahl. Diese Faktoren müssen auch ausgerichtet werden, wenn ein Unternehmen nur in Teilen agil sein will.

Trittbrett Digitalisierung

Das klingt nicht nur nach viel Arbeit, das ist auch anstrengend. Deshalb zur Klarheit eine geschlossenen Frage: Muss ein Unternehmen agil werden, das gut verdient und sich außerhalb eines dynamischen und komplexen Umfeldes bewegt? Nein. Und – wie viele Unternehmen können von sich behaupten, nicht zumindest von der Digitalisierung betroffen zu sein? Diese jedenfalls liefert einen handfesten Anlass, Führung, Organisation und Steuerung neu aufzustellen und Schritt für Schritt eine agile Haltung zu entwickeln.

Wir predigen Unternehmensleitern und Führungskräften seit Jahren, den üblichen 4 Quadranten der Aufgabensortierung nach Eisenhower zwei weitere vorzuschalten: „Forschung und Entwicklung“. In Selbstmanagement-Seminaren hören es alle Teilnehmer von uns, dass diese Quadranten gepflegt sein wollen – egal ob privat oder beruflich, egal ob sie nun Führende sind oder nicht. Wer erfolgreich unterwegs ist, kann sich den Luxus von Forschung und Entwicklung eher leisten, als der, der in Not ist.

Im Grunde geht es darum, einen ruhigen Strom kreativer Unruhe zu erzeugen – im Unternehmen wie bei mir selbst –, mit vielen kleinen Experimenten permanent die Zukunft zu erkunden. Kleine Schritte vermeiden das große Risiko und befreien von dem Zwang, sich nicht irren zu dürfen. So wird Veränderung zur Normalität, gelockt von Neugier statt getrieben von Angst, angezogen von Experimentierraum statt von der Not gedrungen.

Agilität und Emotionale Intelligenz

Zu guter Letzt mein Déjà-vu mit der Agilität – vor Jahren, in der Gründungsphase von EQ Dynamics wurde ähnlich polarisierend über Emotionale Intelligenz geschrieben und diskutiert wie wir das heute mit dem Begriff Agilität erleben: Schlüssel für zukünftigen Erfolg oder alter Wein in neuen Schläuchen? Bei der Emotionalen Intelligenz haben es heute alle kapiert: Es ist sowohl das eine als auch das andere, wir können dem Kind auch gerne einen anderen Namen geben, aber vor allem muss es praktiziert werden!

Also vergesst die Buzzwords und lasst Euch nicht ins Bockshorn  jagen, wenn Euch jemand nach Eurer Agilität fragt!

Bewegt Euch!

Mit herzlichen Grüßen aus dem emotional intelligenten Hauptquartier,

Eure Sabine Grüner

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